#01
Valloton fragt Valloton -
Ist es das wert? Ein Gespräch über den Wert unserer Kleidung
Lorenz O. Valloton
Wenn Sie schnell überschlagen, was kostet alles zusammen, was Sie heute tragen?
Friedrich G. Valloton
Ich bin ein ganz guter Kopfrechner, aber geben Sie mir einen Moment. Um die 1400 Euro. Schuhe, Hose, Hemd, Pullover, Jacke, und das Darunter.
Lorenz O. Valloton
Das ist nicht wenig.
Friedrich G. Valloton
Das ist angemessen. Lassen Sie uns nachrechnen, wie wenig man dafür ausgeben könnte, würde man sich ausschließlich bei den gängigen Billiganbietern bedienen. Ich würde sagen, wir landen bei 300 bis 400 Euro. Und man kann es sicher noch weiter treiben, nach unten meine ich.
Lorenz O. Valloton
Sie sind heute sehr casual unterwegs. Nehmen wir an, ich treffe Sie formeller gekleidet, wie Sie es ja oft sind. Anzug oder Hose mit Jacket, Hemd, passende Schuhe, vielleicht ein Mantel et cetera. Wieviel dann?
Friedrich G. Valloton
Da ist die Bandbreite natürlich sehr groß. Ich habe Ready to Wear Sachen, ich habe Bespoke. Das differiert enorm. Also sagen wir zwischen zweitausend und zehntausend Euro.
Lorenz O. Valloton
Zehntausend ist eine Ansage. Da werden einige Leser kräftig durchatmen. Können Sie das aufschlüsseln?
Friedrich G. Valloton
Sagen wir ein Dreiteiler auf Maß, fünftausend. Das ist nicht wenig, aber auch lange nicht das obere Ende der Skala. Ein Maßhemd für vierhundert, Schuhe für eintausend, das ist Ready to Wear, ein Mantel MTM um zweitausendfünfhundert, und für Wäsche, Socken, Stecktuch, Krawatte nochmal dreihundert. Dann liegen wir knapp unter zehntausend.
Lorenz O. Valloton
Ist es das wert?
Friedrich G. Valloton
Das muss natürlich jeder für sich entscheiden. Nüchtern betrachtet, also einfach betriebswirtschaftlich durchgerechnet aus Sicht der Produzenten, Handwerker, Manufakturen ist es das natürlich wert. Das kostet es nun einmal. Nehmen wir den Anzug. In einen Dreiteiler fließen auf diesem Niveau bis zu 80 Arbeitsstunden. Stoff und anderes Material kosten mindestens 600 Euro. Bleiben 4400 Euro für die Arbeit. 4400 dividiert durch 80 Stunden macht rund 55 Euro brutto oder rund 46 Euro netto. Das ist nicht viel. Kürzlich war der Installateur bei mir um die Therme zu warten. Die Stunde wurde mit 130 Euro netto verrechnet. Fahre ich mit meinem Auto in die Werkstatt, ist es ähnlich. Gehen Sie zum Anwalt um sich in einer Erbschaftssache beraten zu lassen oder sich in einer anderen Angelegenheit vertreten zu lassen, zahlen Sie je nach Erfahrung und Renommee ab 250 Euro netto die Stunde bis zu einem Vielfachen. Ein guter Maßschneider ist ein Handwerker auf höchstem Niveau. Im Idealfall berührt er die Kunst. Für 55 Euro die Stunde! Wir haben in manchen Bereichen einfach verlernt, was die Dinge wert sind.
Lorenz O. Valloton
Wer soll sich das leisten?
Friedrich G. Valloton
Diejenigen, die sich das leisten können und wollen. Maßkleidung für alle gibt es leider nicht. Aber minderwertiges Zeug aus aller Welt für alle, sollte es auch nicht geben. Wir lassen es zu. Die Politik lässt es zu. Der Einzelne lässt es zu, indem er die Hose für 20 Euro kauft, das T-Shirt für 4,99.
Lorenz O. Valloton
Ich kenne Eltern, die haben keine Wahl. Sie müssen Miete zahlen, Gas und Strom, ihren Lebensunterhalt mit den Kindern bestreiten. Arbeitende Menschen. Die müssen ihren Kindern T-Shirts für 5 Euro kaufen und eine Winterjacke für 40 Euro. Für eine bessere haben sie kein Geld. Soll das Kind frieren?
Friedrich G. Valloton
Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich darüber erregen. Es ist ein Skandal, dass es so ist. Wir leben in einer der reichsten Gesellschaften der Welt und arbeitende Eltern stehen vor der Wahl ihr Kind frieren zu lassen oder eine minderwertige Polyester Jacke zu kaufen, die um die halbe Welt transportiert wurde. Das ist verrückt! Und es ist völlig inakzeptabel. Warum haben arbeitende Menschen nicht genug Geld, für das Kind eine in Europa, von anständig bezahlten Menschen produzierte Jacke von guter Qualität zu kaufen? Das ist die drängende Frage, die wir uns alle stellen sollten.
Lorenz O. Valloton
Vermutlich auch, weil es diese Jacke gar nicht gibt.
Friedrich G. Valloton
Richtig! Es gibt sie nicht. Und wenn es sie gäbe, könnte sie kaum jemand kaufen. Es sei denn freilich, es gäbe sie tausendfach, weil man sie in unzähligen Varianten in mehreren europäischen Ländern produzierte. Dann nämlich könnten die Menschen sie auch kaufen. Sie verstehen, worauf ich hinaus will.
Lorenz O. Valloton
Die Wiederbelebung der europäischen Textilproduktion im großen Stil also. Und generell, wer gut bezahlt wird, hat auch Geld um es auszugeben?
Friedrich G. Valloton
Ja, natürlich! Wir sollten einiges wiederbeleben, da wo wir ja tatsächlich leben. In Europa nämlich. Europa ist der großartigste Kontinent überhaupt, das ist doch offensichtlich. Dieser enorme kulturelle Reichtum, diese Vielfalt, diese Sprachen, diese Expertise in so vielen Bereichen. Sehen Sie sich um! Es gibt tausende Unternehmen in Europa, die in ihrem Bereich nicht nur zu den Besten gehören, sondern die Besten sind. Vom Großkonzern bis zum kleinen Familienbetrieb. Ist uns das klar? Fahren Sie durch Deutschland, durch die Schweiz, durch Österreich, durch Italien, Frankreich. Ständig sehen Sie bekannte Firmennamen, die Weltruf genießen. Dann das Handwerk, die Kunst. Sensationell!
Lorenz O. Valloton
Die wirtschaftlichen Verschränkungen mit aller Welt sind aber Realität.
Friedrich G. Valloton
Ja, stimmt. Das hat ja auch sein Gutes. Wenn in Bangladesch Menschen - unter vernünftigen Bedingungen - ein Einkommen haben, das ihre Familie ernährt, weil sie Kleidung für Europa produzieren - wer würde das schlecht heißen? Ich bezweifle nur, dass das die beste aller Möglichkeiten ist, dort Wohlstand zu erzeugen, den wir hier, in Europa zeitgleich torpedieren, wenn nicht vernichten.
Lorenz O. Valloton
Weniger Kopfarbeit, mehr Handarbeit?
Friedrich G. Valloton
Darauf wollte ich jetzt gar nicht hinaus. Aber es stimmt. Wir produzieren zu viel Luft. Dienstleistungen und digitale Produkte, die zwar ganz toll sind, aber letztlich verzichtbar. Wir brauchen, wie alle Gesellschaften dieser Welt, ausreichend Nahrung, ein Dach über dem Kopf, eine funktionierende Infrastruktur, Stabilität, Ordnung, Frieden, Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeit, Einkommen - jedenfalls solange Einkommen ohne Arbeit nicht erfunden ist - und zum Beispiel Medikamente. Die einzige Penicillin-Produktion Europas befindet sich heute in Kundl in Tirol, betrieben vom Schweizer Pharma-Konzern Novartis, oder dessen Division Sandoz. Man stelle sich das vor. Die einzige und letzte Produktionsstätte für Penicillin in Europa. Man kann nur staunen.
Lorenz O. Valloton
Sie glauben nicht so sehr an die internationale Solidarität und deren Warenströme.
Friedrich G. Valloton
Ich muss das nicht beantworten, oder? Ich wünsche mir das alles. Und zu großen Teilen funktioniert das auch. Aber wir sollten nicht naiv sein. Wer sich im Fall des Falles nicht selbst zu helfen weiß, ist verloren. Das lehrt uns die Geschichte. Und die wird, ich sage das mit großem Bedauern, gerade jetzt nicht neu erfunden.